11. März 2019
„Cool, was ihr da macht, genau das brauchen wir gerade — aber das ist mir leider zu politisch.“
Zu politisch. Alle anderen Kriterien erfüllt: engagiert, gut vorbereitet, viele Leute hinter sich, genau in der Linie der Stiftung, des Förderprogramms, der Filmfirma, des Gesprächspartners — aber leider zu politisch.
Seit wir vor 2 Jahren begonnen haben, die großen Probleme in Europa ernst zu nehmen, seit wir erkannt haben, dass die nur durch bessere Politik gelöst werden können, stolpern wir über ein Phänomen: die Scheu, politisch zu sein.
Politisch interessiert geht für einige noch: Es ist gut, über Themen und letzte Entwicklungen Bescheid zu wissen, da lässt sich beim Abendessen besser diskutieren. Und manche Themen liegen dem ein oder anderen wirklich am Herzen. Aber wenn man sich den Geschmack der Worte „EU“, „Brüssel“, „Parlament“, „Partei“, „Wahlen“ mal wirklich auf der Zunge zergehen lässt, dann schmeckt man Leitungswasser mit Spüli-Geschmack.
Realität ist: Die meisten von uns haben komplett den Anschluss zu Politik verloren. Politiker sind Menschen im Newsfeed, deren Entscheidungen wenig mit unserem Leben zu tun haben. Oder auf deren Entscheidungen wir eh keinen Einfluss haben.
Aufgewachsen in den Jahren der Politik der Mitte und der Langeweile konzentrieren wir uns auf Praktika, Reisen, Beziehung und den Rest vom eigenen, komplexen Leben. Ein ausrastender Lindner kommt vielleicht noch gerade bei uns an, aber das war es auch schon.
So ging es jedenfalls mir. Und jetzt, wo ich für mich erkannt habe, dass wir die Politik gerade den Falschen überlassen, dass wir die großen Herausforderungen unserer Zeit eben nicht angehen, merke ich, wie gefährlich diese Entfremdung ist.
Denn die Probleme verschwinden nicht und die Demokratie dreht sich unbarmherzig weiter, egal ob wir hinschauen oder nicht. Seit letztem Jahr sitzen in jedem deutschen Landtag Abgeordnete der AfD. In Italien regiert eine populistische Allianz. Ungarn wurde gerade von Freedom House runtergestuft, weil es immer autokratischer wird. Und für die Europawahlen wird erwartet, dass über 30% Antieuropäer in Brüssel sitzen werden, die langsam die EU von innen aushöhlen werden. Gleichzeitig fliegt uns der Planet um die Ohren, in Spanien ist seit 10 Jahren jeder zweite Jugendliche arbeitslos und Asylsuchende packen ihre Sachen zuhause zusammen, um eine möglicherweise tödliche Reise anzutreten.
Wahlen sind unsere Entscheidung über unsere Zukunft und unsere Gesellschaft. Und gerade entscheiden Leute über unsere Zukunft, die so zornig sind, dass sie wählen gehen. Die so zornig sind, dass sie politisch geworden sind. Und zornige Menschen wollen eine zornige Zukunft. Aber wollen wir das auch?
Woher kommt also diese Scheu, politisch zu sein? Warum passt Politik nicht in unseren Yoga Lifestyle? Warum sage ich lieber „Gründer“ als „Spitzenkandidat“?
Keine Ahnung. Aber ich weiß, dass wir das dringend und sehr schnell ändern müssen, wenn wir weiter an morgen und eine bessere Gesellschaft glauben wollen.